Autor*INNen 2019


Pedro Badrán

Pedro Badran, Peter Schultze-Kraft
Pedro Badran, Peter Schultze-Kraft

Lebt in Bogotá (Kolumbien)

 

Was wissen wir schon über Kolumbien. Drogenkriminalität, Bandenkriege, ach ja. Aber: Gabriel García Márquez. Der Meister des magischen Realismus, der die Grenzen zwischen Realität und Phantastischem zu verwischen vermochte. Vielleicht, vielleicht ist Kolumbien ja auch darum unter den spanischsprachigen Ländern Südamerikas das Land mit der dritthöchsten Buchproduktion.

Es ist ein Glücksfall, dass Pedro Badrán, einer der herausragenden Vertreter der Post-post-García-Márquez-Generation in der kolumbianischen Literatur, nach Hall kommt. So bietet sich die Möglichkeit, seinen im Frühjahr 2019 auf Deutsch erschienenen Roman «Der Mann mit der magischen Kamera» kennen zu lernen. Im Mittelpunkt stehen ein von Abriss bedrohtes Hotel und die, die mit ihm verbunden sind, ein Glücksschmied, eine Touristin, ein Rezeptionist und natürlich Tony Lafont, der Mann mit der magischen Kamera: «Meine Fotos sollen dieser Geruch nach Feuchtigkeit sein, der Riss in der Wand, das Maunzen der rolligen Katze, die Laken des Hotels, das Sirren eines Moskitos im Zimmer, die Brise, die durch den Patio weht, der Schatten unter den Mandelbäumen …» Dieser karibische Roman, ein Mosaik aus Poesie und Vergänglichkeit, fordert durch seine Vielschichtigkeit heraus und «erzeugt einen Sog, dem sich die Leser nicht entziehen können», so Hans Christoph Buch in der FAZ.

Was wissen wir schon über Kolumbien. ¡Venga a ver, Señoras y Señores!

 

UW

 

Bücher

«Der Mann mit der magischen Kamera» (aus dem Spanischen übersetzt von Peter Schultze-Kraft und Rainer Schultze-Kraft), Roman 2019 edition 8; «Margarita entre los cerdos» 2018 Randomhouse Bogotá; «Lecciones de vertigo» 2015 Editorial Planeta Madrid


Antonia Baum

Antonia_Baum © Andreas Hornoff
Antonia_Baum © Andreas Hornoff

Lebt in Berlin

Wie kommt man nur auf solche Titel? «Vollkommen leblos, bestenfalls tot», «Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren» und «Tony Soprano stirbt nicht». Jeder für sich lässt den Kopffilm rattern, bevor noch die erste Zeile gelesen ist.
Antonia Baum kann Geschichten erzählen, Geschichten die «cool, unprätentiös, witzig und herzzerreißend» daherkommen, wie Moritz Baßler in der «Zeit» urteilt. Geschichten, wie man zur Liebe seiner Familie verdammt ist, auch wenn der Vater Theodor (in «Schrottplatz») ein Autohändler, Arzt & Nichterzieher und der Mutterersatz ein Sultan ist. Geschichten, die von so unerheblichen Dingen und gleichzeitig wichtigen Details wie der Hans-Meiser-Beobachtungshaltung oder der Bach-Gans Raum geben. Geschichten, die in eine Welt eintauchen lassen, für die Kleinbürgertum ein Fremdwort ist. Geschichten, deren an Popkultur und Raptexte angelehnte Titel nicht zu viel versprechen, sondern schräge, komische, skurrile Vater-Kind-Geschwister-Familienbeziehungen in ein neues Licht treten lassen. Geschichten, in denen Sätze wie «Wenn ein Auto weg ist merkt Theodor das sofort. Ganz im Ernst, der hätte Autos kriegen sollen keine Kinder» nicht nur auf dem Buchumschlag stehen, sondern glücklicherweise im Roman massenhaft zu finden sind.

UW

Bücher:
«Stillleben» Roman 2018 Piper; «Tony Soprano stirbt nicht» Roman 2016; «Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren» Roman 2015; «Vollkommen leblos, bestenfalls tot», Roman 2011; alle Hoffmann und Campe.


Zoltán Danyi

Zoltan Dany © Ekko von Schwichow
Zoltan Dany © sprachsalz denis mörgenthaler

Lebt in Senta/Serbien

 

«Die Erde bebte, sagte er, oder es waren nur die Beine, die ihm zitterten, in Berlin lief er den ganzen Tag nur hin und her in den Straßen, seit Tagen lief er nur hin und her, er fing am Morgen an und blieb nicht stehen, bis spät in die Nacht». So setzt Zoltán Danyis aufwühlender erschreckender, so überwältigender Roman «Der Kadaverräumer» ein. Nicht nur der Boden bebt und wackelt und ist unsicher. Nahezu alles andere auch, erst recht das menschliche Miteinander, das im jugoslawischen Bürgerkrieg zur grausamen Unmenschlichkeit mutiert.

Zoltán Danyi, geboren 1972 in Senta, damals Jugoslawien, heute im nördlichen Teil Serbiens gelegen, dort der ungarischen Minderheit angehörig, studierter Philosoph und Literaturwissenschaftler, Lyriker und Universitätsdozent, der über den brillanten Béla Hamvas promoviert wurde, welcher Philosoph, Essayist, Kritiker und Wein-Denker war und nach 1948 Lagerverwalter und Hilfsarbeiter, ist zudem der erste hauptberufliche Rosenzüchter, der bei Sprachsalz liest. Denn er leitet in seinem Heimatort eine von seiner Mutter gegründete Rosengärtnerei. Blut und Rosen, eng miteinander verschwistert. Oder wie The Smithereens einst in ihrem Song «Blood and Roses» meinten: «I want to love but it comes out wrong / I want to live but I don’t belong».

 

AK

 

Bücher:

«Der Kadaverräumer» Roman 2018 Suhrkamp Verlag


Elke Heidenreich

Elke_Heidenreich © Ohlbaum
Elke_Heidenreich © Ohlbaum

 Lebt in Köln

 

Sie ist Köln treu geblieben, genauso der Hingabe an Bücher. Ihre kabarettistischen Kolumnen im damaligen SWF 3 – mein Gott, wie haben wir den Sender sogar im schweizerischen Aargau geliebt – hallen heute noch in den Ohren von Menschen mit ähnlichem Jahrgang wie der des Verfassers. Parallel zum eigenen Schreiben gehört sie zu den lustvollsten Leserinnen und Literaturvermittlerinnen in den Studios des deutschsprachigen Rundfunks. Sie sagt: «Wenn man die Freude, Bücher zu lesen, zum Beruf machen kann, ist das an sich schon großartig. Aber noch besser ist, mit klugen Menschen über diese Bücher zu reden, sich gemeinsam zu freuen oder tüchtig zu streiten.»

Der Verfasser sagte ihr im Jahre 2001 in Solothurn während eines Interviews für das St. Galler Tagblatt: «Irgendwann werde ich ein Buch schreiben, aber dafür halte ich mich zu jung…»

Sie: «Wie alt sind Sie denn?»

Er: «Neununddreißig».

Sie: «Da waren andere schon tot. Wenn Sie keinen wirklichen Drang verspüren, kein Lebensmuss, dann lassen Sie es bleiben, bleiben Sie Leser.»

Wir freuen uns auf sie: die Leserin und Schreiberin.

 

UHA

 

Bücher:

«Alles fließt – Der Rhein. Eine Reise» 2018 Corso; «Alles kein Zufall. Kurze Geschichten» 2016; «Nero Corleone kehrt zurück» 2012; «Passione – Liebeserklärung an die Musik» 2009; «Alte Liebe. Erzählungen» (mit Bernd Schroeder) 2009; «Rudernde Hunde» (mit Bernd Schroeder) 2002; «Der Welt den Rücken. Erzählungen» 2001; «Nero Corleone» (mit Quint Buchholz) 1995, alle bei Hanser


C. H. Huber

Christine Huber© Markus Maass
Christine Huber© Markus Maass

Lebt in Innsbruck

 

In ihrem neuen Gedichtband «die vögel reden wieder miteinander», der zum Festival erscheint, reißt immer wieder ein einzelnes Wort aus nach links, es wirkt, wie wenn es sich nicht in den strengen Zeilenbruch hätte einklinken lassen. Dadurch schärfen diese so genannten «Ausreißer» den Blick auf ein anderes, nicht zuletzt auch verspielteres Lesen. Dies scheint mir typisch für die Autorin, die seit vielen Jahren unbeirrt und lustvoll Gedichte und Kurzprosa schreibt, welche ich sehr schätze. «Sie kratzt mit scharfer, manchmal humorvoller Klinge an glatten Oberflächen» (Klappentext ihres Prosa-Buches «Milzschnitten»).

C. H. Huber lebt in Innsbruck, ist aber viel unterwegs: Nicht wenig davon kann man in ihren Geschichten und Gedichten nachvollziehen, in denen sie mit allzu Menschlichem und – was ich besonders gelungen finde – auch erotischen Szenen nicht spart. In ihrem Werk als Lyrikerin (das bereits mehrfach preisgekrönt wurde) zeichnet sie sprachlich verdichtete Szenen gekonnt, aber durchaus persönlich und deshalb sehr emotional.

«morgens geht der/laptop auf abends/unter/

heute lyrikschreib/wetter hattest du/dir gesagt»

Wir freuen uns sehr, dass C.H. Huber das heurige Sprachsalz-Festival eröffnet!

 

MK

 

Bücher:

«die vögel reden wieder miteinander» Lyrik 2019 TAK; «Milzschnitten» Prosa 2016 TAK; «fort-schreibung» Gedichte 2013 EAS Verlag; «poesie der waschstrasse» 2011 Lyrik skarabaeus; «wohin und zurück» Lyrik 2008 TAK; «Kurze Schnitte» Prosa 2005 TAK; http://www.ceha.me/


Lorenz Langenegger

Lorenz Langenegger©Ruth Erdt
Lorenz Langenegger©Ruth Erdt

Lebt in Wien und Zürich

 

Er soll 1980 in Gattikon auf die Welt gekommen sein, so steht’s geschrieben auf Wikipedia. Das hieße, dass er in einem wohlbehüteten Heim zur Welt kam, denn das Dorf am Zürichsee hat kein Spital. Na, Hauptsache, es gibt ihn, den Schweizer Schriftsteller und Theater- sowie Drehbuchautor Lorenz Langenegger. Nach Studien der Theater- und Politikwissenschaften in Bern – aus dieser Kombination können durchaus gewisse verwandtschaftliche Zusammenhänge herausgefiltert werden – reüssierte er 2008 mit seinem Stück «Nah und hoch hinaus» am Nationaltheater Mannheim. Darauffolgend erschienen nicht nur weitere Bühnenstücke, filmisch umgesetzte Drehbücher wie zum Beispiel für den Schweizer «Tatort», sondern auch Romane, in denen er präzise, sachte, ja behutsam Figuren zeichnet. Das Schildern von Rissen in Beziehungen zeuge von «Gespür» und er baue «eine ganz eigene Spannung auf», meint das Wiener Stadtmagazin Falter zum Buch «Dorffrieden». Im Roman «Hier im Regen» verliert der Protagonist Jakob Walter das Vertraute und wird im Regen stehen gelassen. Langenegger dazu: «Die Möglichkeit, dass sein Leben eine neue Richtung einschlägt, blitzt auf, und ich weiß nicht, ob ich ihm das wünschen soll.» Gewünscht sei ihm eine große Schar an Lesenden und Zuhörenden.

 

UHA

 

Bücher:

«Jahr ohne Winter» 2019; «Dorffrieden» 2016; «Bei 30 Grad im Schatten» 2014; «Hier im Regen» 2009, alle Jung und Jung; «Der Karlssonsche Magnet» 2019 Hörspiel Radio SRF2 Kultur, Co-Drehbuchautor von «Kriegssplitter» Tatort 2017 SRF, diverse Theaterstücke bei S. Fischer.

 


Barbi Markovic

Barbi Markovic ©Aleksandra Pawloff
Barbi Markovic ©Aleksandra Pawloff

Lebt in Wien

 

In ihrem Roman «Superheldinnen» treffen sich drei Freundinnen regelmäßig im «Sette Fontana», einem Wiener Café. Sie sind junge Immigrantinnen aus dem Balkan und sie wollen in Wien den Aufstieg in den gesellschaftlichen Mittelstand schaffen, müssen aber sehr bald erkennen, dass dies auf dem üblichen Weg nicht möglich ist (unüberwindbare Bürokratie, missgünstige Einheimische, unverlässliche Verwandte, schlecht bezahlte Schwarzarbeiten).

Darum greifen sie zu den unkonventionellen Mitteln der Magie, dem Blitz des Schicksals und der Auslöschung des Bösen. Durch diese übersinnlichen Kräfte gelingt dann tatsächlich ein Happyend, zumindest im Buch. Skurrilität, Sarkasmus, Groteske und Ironie sind die inhaltlichen und stilistischen Mittel, mit denen die Autorin arbeitet und einen rasanten Roman aufs Parkett zaubert.

Ebenso wie auch in ihrem Buch «Ausgehen», in dem sie den Schreibstil von Thomas Bernhard verwendet («Gehen»), um mit einem sprachlichen Feuerwerk über die Jugend-, Club- und Drogenszene in Belgrad (die Autorin stammt von dort) herzuziehen. Zu diesem Roman sagt die Autorin: «Ich wollte das Schimpfen, das in der österreichischen Literatur schon lange Tradition hat, in die Literatur Serbiens einführen.»

 

ES

 

Bücher:

«Superheldinnen» Roman 2016 Residenz Verlag; «Graz, Alexanderplatz» 2012 Roman Leykam-Verlag; «Ausgehen» Roman 2009 Suhrkamp Verlag


Marie Modiano

Marie Modiano © F. Mantovani Gallimard
Marie Modiano © F. Mantovani Gallimard

Lebt in Paris

 

Obwohl meine Erlebnisse als junge, gerade flügge gewordene Frau faktisch in nichts dem gleichen, was Marie Modiano in «Das Ende der Spielzeit» beschreibt, hatte ich beim Lesen sofort dieses vertraute Gefühl, wie wenn ich es selbst erlebt hätte: Das ständige Suchen, das ebenso stetige Nicht-Finden, die übergroße Sehnsucht nach – ja wonach? –begleitet ihre Protagonistin, die von einer frühen schweren Liebe erzählt und den Erlebnissen auf der Reise mit einer Theatergruppe, die ebenso abenteuerlich wie mitunter verzweifelt sind.

«Ich bin mir schon jetzt bewusst, dass gewisse Momente im Leben nur dazu dienen, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie an Wert.» Gerade, weil sie den Prozess des Erlebens und Verarbeitens in ihrem Roman immer transparent macht, wird dieses Stück Jugend, wie wir es wohl alle erlebt haben könnten, so nachvollziehbar.

Das Streunen durch Straßen und Hotels mit der Autorin entbehrt nicht einer gewissen Melancholie, die ich sehr mit Paris verbinde. Marie Modiano lebt ebenda als Singer Songwriterin, Schauspielerin und Autorin; und ja, ihr Vater ist DER Patrick Modiano mit dem Nobelpreis. Ich freue mich, dass Marie Modiano zu Sprachsalz kommt!

MK

 

Bücher:

«Das Ende der Spielzeit» Roman 2018 Rotpunkt Verlag; «Pauvre Chanson et autres poèmes» Prosa 2018 Gallimard; «lointain» 2017 Collection Blanche Gallimard


Ernst Molden

Ernst Molden(c)Daniela Matejschek
Ernst Molden(c)Daniela Matejschek

Lebt in Wien

 

«Hab ich erwähnt, wie heiß ich Wien liebe? Wie sehr den Frühling? Wie unermesslich beides zusammen?» Wie er seine Gitarren spielt, wie seine Texte singt/interpretiert, so möchten viele schreiben können, und so wie er in seinen Büchern zu schreiben pflegt, möchten viele singen können. Erlebnisse und Erkenntnisse legt er in Form von Kurzgeschichten und Kolumnen vor. Zentrales Merkmal dabei ist das Authentische: Wie viele bemühen sich – und dieses vermutlich durchaus redlich – authentisch zu wirken, sowohl als SchriftstellerInnen oder als MusikerInnen. Er ist es und das in beiden Sparten. Immer wieder war und bin ich von jedem seiner Auftritte, die ich inzwischen gesehen habe, aufs Neue fasziniert. In seinem neuen Buch schreibt er von Geistermotten, Weberknechten, Florfliegen, Knoblauchkröten oder vom Schwarzspecht, von «Nischenviechern» also. Seine Texte sind, was deren Länge und die Intonation angeht, perfekt gearbeitet. So ist es, wenn einer versteht, an der Schnittstelle von Sprache und Musik zu arbeiten. Einen Hang zur knackigen Metapher ohne Teutonismen wie «runter» oder «rauf». So bietet er mir, dem davon genervten Leser, dafür wunderbar Wienerisches wie etwa «fladern» (stibitzen) oder «fäulen» (stinken). Seine sprachlichen Duftmarken sind stets mit Bedacht gesetzt. Und ich bin mir sicher, auch er wird – wie vor ihm etwa Ed Sanders, Janine Pommy Vega, Ruth Weiss oder Georg Kreisler – einer mit bleibendem Eindruck sein in der Sprachsalz-Chronik.

 

HDH

 

Bücher

«Das Nischenviech» 2019; «Wien Mitte» Kolumnen 2014; «Liederbuch» Songtexte 2011; «Wien – Hinweise zum Umgang mit einer alten Seele» Essays 2004; «Christbaum kaufen, baden gehen» Essays 2003 ; «Biedermeier» Roman 1998, alle Deuticke; «Weisser Frühling» Essays 1994 Ibera.

https://www.ernstmolden.com/


Herta Müller

Herta Müller (c) Denis Moergenthaler sprachsalz
Herta Müller (c) Denis Moergenthaler sprachsalz

Lebt in Berlin

 

Ihr erster Prosaband «Niederungen» erschien 1982 – zensiert – in Bukarest und gelangte auf Umwegen nach Deutschland, wo er im West-Berliner Rotbuch-Verlag 1984 – unzensiert – veröffentlicht wurde. Verstärkte Bespitzelung und Drangsalierung durch die Securitate, üble Verleumdungen und Drohungen waren die Folgen. «Wer mich verleumdete, bewies seine Heimatliebe», berichtet die Nobelpreisträgerin Herta Müller in einem FAZ-Interview. Das scheint bis heute seine traurige Gültigkeit nicht verloren zu haben.

Für ihr neuestes Buch – aus dem sie lesen wird – sammelt sie wiederum Wörter, um diese aufzuspießen wie tote Käfer. Fündig wird sie in Zeitungen und Zeitschriften, unterwegs oder zu Hause. Die Welt ist voller Wörter. Manchen der Wörter ist deren Herkunft anzusehen, sei es aus dem Boulevardblatt oder der seriösen Presse entnommen, in ihrer Arbeit finden sie zusammen, ob laut oder leise, zärtlich oder vulgär. Begonnen hatte sie diese Form, als sie 1987 nach Deutschland übersiedelte. «Kurz nachdem ich aus Rumänien kam, war ich viel unterwegs. Ich wollte mich bei Freunden melden», schreibt Herta Müller. «Aber die Ansichtskarten hatten so grässlich missratene Farben. Eines Tages kaufte ich weiße Karteikarten, einen Klebestift und fing an, im Zug mit der Nagelschere aus der Zeitung ein Schwarzweiß-Bild und Wörter auszuschneiden». Herta Müllers Collagen sind Kunstwerk und Gedicht, Spiel und poetischer Ernst zugleich. Durch die geklebten Gedichte schleicht die Wirklichkeit. «Es gibt nichts zu verlieren, aber sehr viel zu finden in diesen bunten Sprach-Bildern.»

Wir freuen uns sehr, dass Herta Müller uns erneut besucht!

 

HDH

 

Bücher:

«Im Heimweh ist ein blauer Saal» 2019; «Vater telefoniert mit den Fliegen» 2012; « Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel» 2011; «Atemschaukel» 2009; «Die blassen Herren mit den Mokkatassen» 2005; «Der König verneigt sich und tötet» 2003, alle Hanser,; «Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne» 1999 Wallstein; «Heute wär ich mir lieber nicht begegnet» 1997; «Hunger und Seide» 1995; «Herztier» 1994 «Der Fuchs war damals schon der Jäger» Roman 1992, alle Rowohlt; «Reisende auf einem Bein» 1989; «Niederungen» 1984, Rotbuch-Verlag


Gabriele Petricek

gabriele Petricek © Wally Re
gabriele Petricek © Wally Re

Lebt in Wien

 

«Ein Unterwegs in Zügen und Flugzeugen». «Keineswegs länger bleiben». «Nicht länger als notwendig». Drei Sätze aus dem letzten Buch der Autorin. Drei Sätze, welche das Befinden des Lesers, des Mitreisenden, des Mitverfolgers und Mitverfolgten artikulieren; wobei es keine Grenze zwischen Suche und Verfolgung gibt. Suchen heißt verfolgen und umgekehrt. Von London nach Stockerau und hinein in diverse Zwischenstationen. Die Textspindel rotiert. Kommt wieder und wieder an Innsbruck vorbei. Und mit jeder Umkreisung von Innsbruck wird neuerlich Schwung aufgenommen. Und es geht hinaus und hinein zugleich. Tiefer und tiefer in dieses erstaunliche Buch; wie übrigens alle ihre Bücher in der Leserin, im Leser dieses wohltemperierte Erstaunen hervorzurufen verstehen.

Doch zurück. James Joyce an Sylvia Beach: «Der Inn ist der schnellste Fluss, den ich je gesehen habe. Er flitzt wie ein losgelassener Windhund». Die rasante Textfahrt unter die Oberfläche der Arbeiten/der Werke von Gabriele Petricek zwingt einen, bei der Sache zu bleiben. Und bei der Sache bleiben ist eine Form der Unterhaltung, allerdings die anspruchsvolle Form. Unter der Oberfläche entdeckt man die wahre Haltung, die Kunstfertigkeit ihres Stils untergräbt festgefahrene Sprachgewohnheiten und «Also, das Aufschreiben ist ja die Sache selbst und ich der Faden per se». Deshalb nutzen Sie die Gelegenheit und nehmen Ihrerseits den Faden auf als Leserin, als Leser, es lohnt sich, dieser Autorin und ihrem Werk zuzuhören.

 

HDH

 

Bücher:

«Die Unerreichbarkeit von Innsbruck» Verfolgungsrituale 2018 ; «Joyce’s Choice oder: Ein Hund kam in die Küche» 2011 ; «Von den Himmeln» Triptychon 2009; «Zimmerfluchten» Erzählungen 2005; alle Sonderzahl.


Vladimir Sorokin

Vladimir Sorokin © Maria Sorokina
Vladimir Sorokin © Maria Sorokina

Lebt in Moskau und Berlin

 

Hoffentlich führt Vladimir Sorokin, Jahrgang 1955, nicht leibhaftig vor, was er in seinem jüngsten Roman «Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs», einer buchstäblich feurigen Groteske, so hinreißend appetitanregend beschreibt! Zukunft, bald. Die Welt ist oligarchisch aufgeteilt, kapitalistisches Hauen und Stechen gehen wörtlich vonstatten. Gelesen wird nicht mehr. Bücher aus Papier taugen nur noch als Hilfsmittel für exklusive Luxusgourmetmenüs, die der Koch Geza kreiert (in Bayern! auf einem Schloss!). Da gibt es Schnitzel auf Arthur Schnitzler, Zander auf Bulgakow, Stör-Schaschlik auf Dostojewskis «Der Idiot». Bücherverbrennung als kulinarisches, erst recht als literarisches Ereignis! Eine irrwitzige Etüde über uns und die Welt. Alles düster. Aber dabei wie alle Bücher des seit Langem von allen Putinisten und deren Parteigängern angefeindeten Sorokin sehr, sehr lustig und überschäumend an Irrwitz und Sarkasmus: «Wenn du ein Buch wirklich liebst, wird es dir alle Wärme spenden, die in ihm wohnt.» Wärme spendet Sorokins Literatur-Welt, auch wenn sie «crazy» (Süddeutsche Zeitung) ist, mit Männern, die klein wie Teetassen sind oder die sich selbst Nägel in den Kopf schlagen, um alternative Realitäten zu erleben. Es geht auch einfacher: einfach Sorokin lesen!

AK

 

Bücher:

«Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs» 2018 Roman Kiepenheuer & Witsch Verlag; «Pferdesuppe» 2018 Novelle ciconia ciconia edition; «Telluria» Roman 2015; «Der Schneesturm»; «Der Zuckerkreml» Roman 2010; «Der Tag des Opritschniks» Roman 2007 alle Kiepenheuer & Witsch Verlag


Dieter Sperl

Dieter Sperl © Dieter Sperl
Dieter Sperl © Dieter Sperl

Lebt in Wien

 

Dieter Sperl bevorzugt als Autor literarische Kurzformen. In seinem Buch «Have a nice trip» nimmt er seine Leser mit auf eine Reise durch seine Wahrnehmungen, Betrachtungen, durch seinen Bewusstseinsstrom. Ein zentrales Thema ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. «Ich frage mich, wer ich denn eigentlich bin, und ich frage mich, was ich denn überhaupt vorhabe auf dieser Welt, und natürlich frage ich mich auch, wer die anderen eigentlich sind und was die anderen überhaupt vorhaben auf dieser Welt.» Sperl formuliert sehr präzise, klar. Seine Texte sind getragen von einer inneren Stille, Klugheit, stark geprägt von fernöstlichen Philosophien. Zen und Buddhismus sind ihm eine wichtige Inspirationsquelle. Das Schrille ist nicht seine Sache, auch wenn er sich ironisch oder lakonisch Themen annimmt.

Sperl ist unter anderem auch Herausgeber des Periodikums «flugschrift». Jede einzelne Ausgabe ist einer Autorin, einem Autor gewidmet und wird von dieser/diesem durchgehend gestaltet. Dabei geht es um Schnittstellen zwischen einzelnen Kunstgattungen, von Literatur, bildender Kunst, Film, Fotografie, Theorie.

Jede einzelne Ausgabe kann man öffnen wie ein Fenster in eine Wunderkammer.

 

ES

 

Bücher:

«Der stehende Fluss» 2019 Ritter; «Have a nice Trip» 2016 Klever; «Von hier aus» Diary Samples 2012; «Absichtslos» Roman 2007; «Random Walker» Filmtagebuch 2005; «Alles wird gut» 1998, alle bei Ritter; «draußen im kopf» 1996 Blattwerk

www.flugschrift.at


Durian Sukegawa

Durian Sukegawa © Sukegawa
Durian Sukegawa © Sukegawa

Lebt in Tokio

 

Bevor ich das Buch entdeckte, habe ich den Film gesehen: Sentaro ist vorbestraft, er trinkt zu viel und sein Traum, Schriftsteller zu werden, ist unerfüllt geblieben. Er arbeitet in einem Imbiss, der Dorayaki verkauft, Pfannkuchen, die mit einem süßen Mus aus roten Bohnen gefüllt sind. Tag für Tag steht er in dem Laden mit einem Kirschbaum vor der Tür. Bestreicht freudlos Gebäck mit Fertigpaste, bis die alte Tokue den Laden betritt. Sie kocht die beste Bohnenpaste, die man sich nur denken kann. Die Begegnung mit ihr verändert alles. Tokue lehrt Sentaro ihre Kunst. Und Wakana, ein Mädchen aus schwierigen Verhältnissen, wird zur Stammkundin des Imbisses und schließt Freundschaft mit den beiden. Allerdings, das Leben meint es nicht gut mit den dreien … «Kirschblüten und rote Bohnen» ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft – melancholisch, ohne sentimental zu werden, berührend, ohne kitschig zu sein – und ein zärtlicher Roman, der uns im Glauben an die kleinen Dinge des Lebens bestärkt.

Aber Sukegawa hat auch den Roman «Insel der Freundschaft» geschrieben, eine Geschichte wiederum mit dieser einen Sog erzeugenden Erzählstimme. Eine Geschichte der Abschottung der Starrsinnigkeit, die nach dem Brexit und der Wahl eines demokratischen Despoten als amerikanischen Führer zeigt, wohinein so gelagerte Veränderungen letztlich führen. Der Film «Kirschblüten und rote Bohnen» war übrigens 2015 Eröffnungsfilm bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes.

 

Durian Sukegawa wird aus beiden Romanen lesen. Am Montag nach Sprachsalz, am 9. September, läuft sein Film im Leokino in Innsbruck (18.30 Uhr).

 

HDH

 

Bücher:

«Kirschblüten und rote Bohnen» Roman 2017 ; «Die Insel der Freundschaft» Roman 2017, beide DuMont.


Philipp Weiss

Philipp weiss ©helmut lackinger
Philipp weiss ©helmut lackinger

Lebt in Wien

 

5=1 und 1=5. So könnte die Formel für das Romanprojekt «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» lauten. Der Roman in 5 Bänden mit rund 1000 Seiten kommt ganz lässig als Enzyklopädie, als Manga, Erzählung, Notizheft und Audiotranskription daher und möchte nichts weniger als den Gang der Welt im Anthropozän erzählen, dem Zeitalter, in dem die Menschheit zum geo-bio-psychischen Einflussfaktor der Erde geworden ist, quasi der rote Faden des Projekts.

Mit welchem Band der fünf Romane man zu lesen beginnt, ist unerheblich. Man könnte mit der enzyklopädisch aufbereiteten fiktiven Biografie der Paulette Blanchard beginnen («Enzyklopädien eines Ichs»), um dann gleich die «Cahiers» von Paulettes ebenfalls fiktiver Urenkelin Chantal zu lesen. Anschließend vielleicht «Terrain vague» vom (selbstredend fiktiven) Jona Jonas, dem androgynen Fotografen und Geliebten Chantals. Mit «Die glückseligen Inseln» könnte die Lektüre weitergehen, ein Manga der (Sie ahnen es sicher bereits) fiktiven Abra Aoki, der von der FAZ als «Mind-Game-Literatur vom Feinsten» gelobt wurde und durch die Bilder von Raffaela Schöbitz eine ganz eigene Poesie entwickelt. Zuletzt noch «Akios Aufzeichnungen», die transkribierten fiktiven (natürlich!) Tonbandaufzeichnungen eines Neunjährigen nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe in Fukushima. «Kurzum: es geht um alles und alles und nochmals alles. Wer das antike Epos für tot hält, kann sich nun eines Besseren belehren lassen», so Björn Hayer auf «Spiegel Online».

Was für ein fulminantes Romandebüt.

 

UW

 

Bücher:

«Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» Roman 2018 Suhrkamp; «Tartaglia» Erzählung 2013 Edition Atelier; «Egon» Ein Kunst-Stück 2008 Passagen

www.philippweiss.at