Hans Augustin

Eine Textprobe aus "Tod eines Baritons" von Hans Augustin:

 

Eigentlich wollte Pierre das Interview mit dem Sender "Welt der Musik" absagen. Aber dann dachte er, daß er es Wassily schuldig wäre. Immerhin reist ein Journalist extra aus Genf an und war einer der ersten der Rundfunkstationen und Zeitungen, die sich zum Tod von Wassily meldeten. Und außerdem wäre es gut für die public relation der Agentur. Ein Exklusiv-Interview. 

Aber die Frage, woher die den Vorfall in der Ostukraine wußten, stellte er sich nicht.

 

Der Journalist war kein Anfänger, während er sich mit Pierre auf ein paar Punkte zum Thema einigte, stellte er das Mikrophon so nebenbei auf den Tisch und ließ das Aufnahmegerät laufen. Kein großes technisches Tamtam und keine Sprechproben, um sein Können und seine Erfahrungen hervorzuheben. Den Pegel korrigierte er während der ersten Sätze des Interviews.  

 

Pierre, wann haben Sie das erste Mal vom Tod von Wassily Slipak erfahren?

Ja wann, ich weiß das im Moment gar nicht mehr so genau. Ich bin - ehrlich gesagt -, noch ziemlich durcheinander. Ich mußte gestern früher als sonst nach Hause. Nein, das heißt ich wollte nach Hause, aber mir fiel ein, daß ich vorher noch einen Termin mit einem Musikdramaturgen hatte, der mir schon seit Wochen in den Ohren liegt, ob wir für eine neue Inszenierung von Othello in Edinburgh nicht eine geeignete Stimme hätten. Das zog sich mehr als gewünscht in die Länge. Dann war an der Fußgängerunterführung, unweit der Bar, ein Bildschirm, in dem ich im Vorbeieilen die Meldung hörte, daß im Osten der Ukraine schon wieder geschossen wird und der Waffenstillstand nicht halten würde und ich dachte, der hält sowieso nicht, da gibt es zuviele Interessen und wieso okkupiert Putin einfach die Krim und keiner rührt sich von den politischen Großmäulern, ich hab mich geärgert, auch wegen des Musikdramaturgen und dann erhielt ich in der Metro einen Anruf von Odile, ich möge sofort ins Büro kommen, es sei etwas Schreckliches passiert. Aber sie sagte mir nicht was. 

Odile kommt zweimal die Woche zum Aufräumen. Also stieg ich bei der nächsten Station aus und fuhr retour. 

Als ich ins Stiegenhaus kam, hörte ich vom oberen Teil der Treppe jemanden weinen. Odile saß vor der Bürotüre am Treppenabsatz.

Ich war etwas genervt, weil ich mit meiner Frau ein Abendessen vereinbart hatte, das ich, wie es aussah, nun schon das dritte Mal verschieben mußte.

Dann war ich etwas ungehalten über Odile, weil sie nicht zum Weinen aufhörte, und ich mir nicht erklären konnte, was so Schlimmes passiert sein soll, als sie das Büro in Ordnung brachte, sagte sie schluchzend, läutete das Telefon. Ich habe ihr früher schon verboten abzunehmen, weil es in letzter Zeit so eine Art Kontrollanrufe gab, um festzustellen, ob es sich lohnt, einzubrechen. Aber bei mir gibt es ja nichts zu holen, ich habe keinen Safe und keine Portokasse, die Schecks habe ich zu Hause, also was solls.

Aber dieses Mal, sagte sie, wollte sie mir einen Gefallen tun und nahm das Telefon ab. Es war jemand, der sehr schlecht französisch sprach. Sie konnte nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war, aber das hört man doch, sagte ich gereizt. 

Sie sagte dem Anrufer, ich würde erst morgen wieder erreichbar sein, aber er nannte immer nur den Namen Wassily Slipak. Und daß Wassily tot sei.

Sie stand vor dem großen Foto an der Wand gegenüber meines Schreibtischs, auf dem Wassily Slipak in der Oper in Paris zu sehen ist. Es zeigte den Schlußapplaus, mit vielen ausgestreckten Armen aus dem Publikum und eine Nelke, die gerade auf ihn zuflog.

Und jetzt soll Wassily tot sein. Wenn das alles stimmte. Das bedeutete, daß er nie wieder singen würde. Nie wieder Applaus bekommen würde, daß alle Mühen und Anstrengungen für eine Karriere vergeblich und alle Verträge und Pläne null und nichtig wären.

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