Literaturfestivals: 10 Wahrheiten & Lügen

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

01: Literaturfestivals sind wie Musikfestivals... mit Lesungen statt Konzerten.

wahr: Es gibt kaum Drogentote, Zeltplätze, kaum Dixie-Klos und fast nie Stagediving. Literaturfestivals haben nur selten Woodstock- oder Rock-am-Ring-Atmosphäre.

 

Doch wer Musikfestivals kennt, versteht die Idee: eine Kette, ein entspanntes Mosaik recht kurzer Lesungen, zwischen denen man sich zwanglos hin- und herbewegt. Dazwischen: Trinken, Feiern, in-die-Sonne-Blinzeln, Eisessen. Kein Mensch muss, kein Mensch kann das komplette Programm besuchen. Wichtiger: Erholung, Eindrücke-Sammeln. Neue Künstler*innen kennen lernen - und sich über alte Favoriten freuen. Zwanglos!

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

02: Niemand kennt die Autoren. Doch keiner wird sie vergessen.

wahr: Vor jedem Festival denke ich „Mist. Ich habe nur fünf, sechs Romane im Programm gelesen: Ich bin schlecht vorbereitet.“ Tatsächlich hilft es, in Leseproben zu schauen, Lesungen auf Youtube anzuhören, auf den Büchertischen des Festivals zu blättern.

 

Doch ob ein Autor spannend ist, merkt man auch IN der Lesung schnell – nach ein paar Sätzen, Minuten. Falls nicht: einfach raus! Es gibt genug Alternativprogramm. Ob ein Text gut ist, findet man daheim heraus, beim Blättern. Lesungen zeigen, was nicht im Text steht: Wie treten diese Leute auf, wie reagieren sie auf Fragen? Über Autor*innen, die man kurz sieht, weiß man danach oft mehr als über Autor*innen, die man lange (nur) las.

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

03: Festivals brauchen Lyriker.

wahr: Ich kann mit vielen Gedichten nichts anfangen. Doch ich LIEBE Lyriker*innen: Ihre Auftritte und Lesungen sind oft viel besser – denn sie verstehen Rhythmus, Klang, Vortrag, Präsentation.

 

...und sie sind meist viel interessierter, besser vernetzt: Romanautoren haben selten Zeit, lange Bücher ihrer Festival-Kollegen zu lesen. Lyriker*innen kennen einander – und ihre Arbeit. Wenn ich einen Romancier bitte, über „die Gegenwartsliteratur“ zu sprechen, merke ich oft: Er las überraschend wenig. Die Essays, Zwischenrufe, Debatten von Lyrikern dagegen sind leidenschaftlich, informiert. Menschen, die viel über Texte zu sagen haben. Nicht nur über die eigenen!

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

04: Große Stadt – große Sache?

falsch: Bei jedem Berliner Literatur-Event klicken 40 meiner Facebook-Freunde öffentlich auf „Ich nehme teil“ - doch zur Lesung selbst erscheinen nur zwei, drei. Weil das Gegenprogramm so attraktiv ist; das einzelne Event immer untergeht. Eines von (zu?) vielen Angeboten in der Großstadt bleibt.

 

Die besten Literaturfestivals erlebte ich in Hildesheim: PROSANOVA - alle drei Jahre, ausgerichtet von Student*innen, die sich vorher monatelang darauf freuten. Das nächste Mal im Mai 2017. Große Literatur, in Pforzheim? Das ist schlüssig. Denn kleine Städte schaffen Druck, Vorfreude, Intimität. Und haben ein kulturhungriges (oder „halb-verhungertes“?) Publikum.

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

05: Die Räume machen das Ding. Und das Wetter.

wahr: Heute beginnt das Sprachsalz-Literaturfestival. Draußen sind 22 Grad: Was, wenn keiner Lust hat, bei tollem Wetter in Lese-Sälen zu bleiben, übers Wochenende? Kein Drama: So wichtig ein gutes Programm ist – der Rahmen ist oft wichtiger.

Wirkt das teure Parkhotel edel, einladend – oder arrogant und steif? Auf jeden Fall helfen die vielen Sonnenterrassen, die nahe Park, der Fluss. Und: dass alle Lesenden hier im Hotel übernachten, essen, trinken – und ansprechbar bleiben. Als wären wir alle auf einem Raumschiff. Einem Ozeandampfer. Oder in einer Anstalt.

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

06: Jeder redet darüber. Niemand schreibt darüber.

 

leider wahr: Es gibt bei Sprachsalz einen tollen Festival-Fotografen, Denis Mörgenthaler. Doch jedes Mal, wenn ich auf Festivals Twitter öffne, Instagram benutze, Inhalte auf Facebook, Tumblr oder in Blogs teile... und mich dabei ein bisschen affig, zu technikfixert fühle... merke ich danach, beim Googeln: Gut, dass ich das festgehalten habe – weil es sonst kaum jemand tat. Es gibt im Netz fast nie gute Spuren.

 

 

Meist wird noch jahrelang über Literaturfestivals gesprochen. Doch wie waren die Lesungen? Welche Texte haben begeistert? Was gelang, was lief schief? Schreiben Sie mit! Halten Sie's fest! In zwei, drei Tagen, Wochen, Jahren sind wir alle denkbar für jede digitale Erinnerung. #nostalgie #dokumentation #kritik #feedback

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

07: Aufpassen! Still sein! Demütig den Texten lauschen!

 

 

falsch – und großer Quatsch: Auf Literaturfestivals geschieht alles gleichzeitig. Es ist okay, Dinge zu verpassen, abzubrechen, rauszugehen... und anderweitig Spaß zu haben: Freunde trafen auf Festivals den Mann ihres Lebens. Schliefen unter freiem Himmel. Oder tanzten bis morgens. Jeder muss SEINE Route finden, durch diese Tage. Alles erlaubt!

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

08: „Gehöre ich dazu? Passe ich hierher? Alle sehen gleich aus!“

 

falsch: Im Publikum von Literaturhäusern sitzen oft vor allem ältere Bildungsbürger*innen: Unter 30 fühlte ich mich dort oft deplatziert, wie ein schmuddeliges Kind. Bei jungen Festivals dagegen tragen alle T-Shirts, Jutebeutel. Auf JEDER Literaturveranstaltung, auf der ich jemals war, dachte ich: „Huch. Alle sehen gleich aus. Und ich passe nicht so recht dazu."

 

 

Das ist eine Neurose: Klar sitzen im Pforzheimer Vier-Sterne-Superior Park-Hotel (!) Dutzende Menschen mit teuren Handtaschen, Schmuck, Seidenblusen. Aber: Fast alle Autor*innen haben Erfahrung mit Armut, Außenseiter-Erfahrungen. Alle Menschen, verrückt genug, ein Literatufestival auszurichten, sowieso. Deshalb bitte nie denken: „Ich passe nicht hierher.“ Wir alle lieben Bücher. Das macht uns EH schon alle zu Außenseitern, Ausnahmen. Es gibt keine "falschen" Schuhe oder Frisuren für ein Festival.

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

09: Literaturfestivals brauchen ein Konzept.

 

Ich bin nicht sicher: Für anderthalb Jahre werden Konzepte geschrieben, das Programm überarbeitet, Autor*innen gesucht, nach vielen oft überraschend komplexen Kriterien. In dieser Auswahl und Planung stecken tausend Gedanken. Doch am Ende steht und fällt ein Festival damit, wie vorfreudig das Publikum, wie höflich die Helfer, wie motiviert oder ausgeschlafen die Autor*innen sind.

 

 

Manche preisgekrönten Literaten sind schlimme Trantüten. Toll also, falls die Texte gut sind. Wichtiger aber: dass die Menschen dahinter mitreißen. Die verkopften, programmatischen Aspekte, die ein Festival über Monate plante, gehen oft völlig unter. („Hast du gesehen, wie sich unser Farb-Schema durch alle Räume zieht?“ - „Ähm. Nein!“).

Foto: Denis Mögenthaler
Foto: Denis Mögenthaler

 

10: Literaturfestivals sind zu teuer.

 

 

nun ja: Veranstaltungen sind teuer. Einen Ort zu finden, und Menschen dort hin- und unterzubringen. Jede noch so einfache literarische Lesung kostet mehr als eine Riesenkiste voller Literatur. Reisekosten. Catering. Hotelzimmer. Veranstaltungstechnik… und dann sitzen 30, 50, 200 Menschen im Saal: Wie viele von ihnen können mit den Texten viel anfangen? Lohnt sich das?

 

Ich glaube, es lohnt sich meist. Doch ich glaube auch: Literaturfestivals sind ein gigantisches Privileg. Ein Geschenk. Etwas, das ich nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmen will: So viel Herzblut, so viel (konkreter!)  Arbeitsaufwand, Kosten - nur, damit ein Schreibender auf ein paar (potenzielle) Leser*innen trifft. Auch und besonders hier, in diesem Luxus-Hotel, denke ich gerade alle fünf Minuten: "Toll." 

 

Und: "Irrsinn!"


 

STEFAN MESCH schreibt als Kritiker und Literaturexperte für die ZEIT, Deutschlandradio Kultur und den Berliner Tagesspiegel. Bis 2008 studierte er Kreatives Schreiben & Kulturjournalismus in Hildesheim. Als Liveblogger begleitet er Lesungen, Literaturfestivals, Tagungen, z.B. den Open Mike oder die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Er lebt in Berlin und Eppingen und arbeitet an seinem ersten Roman, "Zimmer voller Freunde".

 

mehr im Blog: www.stefanmesch.wordpress.com

und auf Instagram, Facebook und Twitter


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