Autor*innen 2023

Jan Carson (Nordirland); Dinçer Güçyeter (Deutschland, Türkei); Waltraud Haas (Österreich); Elisabeth R. Hager (Österreich); Pablo Haller (Schweiz); Peter Hossli (Schweiz); Wlada Kolosowa (Deutschland, Russland); Judith Kuckart (Deutschland); Stewart O'Nan (USA); Kerstin Preiwuß (Deutschland); Sergio Ramírez (Nicaragua); Phil Shoenfelt (Tschechien); Abel Solares (Österreich, Guatemala); YELLO, Boris Blank & Dieter Meier (Schweiz)


Jan Carson

Jan Carson © Jess Lowe
Jan Carson © Jess Lowe

Noch während ich ihren Roman „Firestarter“ gelesen habe, war in mir der Wunsch, diese Autorin mit ihrem Roman zu Sprachsalz zu holen. So ungemein hart und schön, dieses Buch. «Er ist müde bis auf die Knochen, so erschöpft, dass auch Schlaf ihn nicht wieder auf die Beine bringt.» Eine faszinierende Welt erschafft Carson in ihrem Buch. Meisterhaft erzählt die Irin vom Bewusstsein jener Fehler, die man im Leben bereits begangen hat. Der Alltag in Belfast wird aufgeladen mit Unerklärlichem. Zwei Väter als Hauptfiguren: Der eine glaubt, im Online-Brand­stifter seinen Sohn zu erkennen, der andere überlegt, seiner Tochter chirurgisch die Zunge zu entfernen, weil ihre Mutter eine gefährliche Sirene war.

Mit dieser fiebrigen Prosa gelingt der Autorin das Kunststück, bürokratische Mechanismen mit explosiven Identitätsfragen zu verbinden. Aufgrund der fragmentierten, zersplitterten Erzähl­weise findet dieser Roman – ihrem ersten ins Deutsche über­tragenen – eine perfekte Entsprechung zu diesem Lebens­gefühl. Man wird heutzutage schwer Vergleichbares zu lesen be­kom­men. Hin und wieder war ich – obwohl das vollkommen andere Geschichten waren – an die Intensität der Bücher von Claire Keegan erinnert; auch sie war live bei Sprachsalz. Und mir bleibt nur zu wiederholen, was ich an dieser Stelle des Öfteren sage: Lassen Sie sich das keinesfalls entgehen.

 

Jan Carson lebt in Belfast

 

HDH

 

Werke: «Firestarter» Roman 2023 Liebeskind Verlag München. «The Raptures» 2022 Random House UK. «The Last Resort» 2021 Doubleday Ireland.


Dinçer Güçyeter

Dinçer Güçyeter © palagrafie
Dinçer Güçyeter © palagrafie

Dinçer. Wer ist Dinçer. Dinçer Güçyeter ist Dichter. Ist Verleger. Ist ein Literaturbesessener. Ist Schauspieler. Ist Leiter einer Laienspielgruppe. Ist Teilzeitgabelstaplerfahrer. Ist Peter-Huchel-Preisträger (2022). Ist Preisträger in der Kategorie Belletristik der Leipziger Buchmesse (2023) und wurde als Verleger mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis ausgezeichnet (2023).

Dinçer Güçyeter ist ein Sprachsezierer, eine Gesellschaftssezierer, ein Deutschlandsezierer, ein Märchensezierer und er hat ein Buch geschrieben, das wie ein «Skalpell durch die vielen Schichten der Einwanderungsgeschichte fährt», so Karen Krüger in der FAZ.

Sein neustes Werk «Unser Deutschlandmärchen» ist eine Montage aus Fotografien, erzählenden Texten, Gedichten und Briefen. Es ist ein eigenwilliger Roman über das (Nicht-)Ankommen, über Aldi-Tüten und Akkordbrecherinnen. Über Migration, Geschlechterrollen und viel, viel Arbeit.

«Dinçer Güçyeter fängt Geschichten mit einem Netz ein, das feiner gewebt ist als ein Schmetterlingskescher, kann schmerzliche Momente in komische verwandeln und hat uns mit „Unser Deutschlandmärchen“ einen mehrstimmigen Roman geschenkt, dessen poetischer Chor noch weiterklingen wird», so lautet die Begründung der Leipziger Jury.

Autofiktion trifft Lyrik. Literatur vom Feinsten.    

           

Dinçer Güçyeter lebt in Nettetal

 

UW

Werke: «Unser Deutschlandmärchen. Roman» 2022 mikrotext Berlin. «Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Gedichte» 2021. «Aus Glut geschnitzt. Gedichte» 2017. «Anatolien Blues. Gedichte» 2012. «Ein Glas Leben. Gedichte» 2021 alle Elif Verlag Nettetal. www.elifverlag.de


Waltraud Haas

Waltraud Haas © sprachsalz_mtschudin
Waltraud Haas © sprachsalz_mtschudin

„pfeilschnell wie kolibris“ ist der Titel des aktuellen Buches von Waltraud Haas, aus dem sie bei Sprachsalz lesen wird. Kolibris sind Vögel, die eine besondere Flugkunst beherrschen. Sie können rückwärts, auf der Stelle und sogar kopfüber fliegen. (Peter Altenberg hat sie einmal die „Blumenküsser“ genannt.) Diese Besonderheit der Vögel kann man eins zu eins auch auf die Texte von Waltraud Haas übertragen.

Waltraud Haas hat bisher zehn Bücher publiziert und sie gehört zu den wichtigsten Dichterinnen in unserem Land.

Sie ist eine Großmeisterin literarischer Miniaturen. Ihre Gedichte sind meist nur wenige Zeilen lang, aber haben es stets in sich. Verknappung, jedes Wort präzise gewählt und gesetzt, der Stil glasklar und von großer Reinheit. Ihre Gedichte kreisen um wiederkehrende Themen: Liebe, Sehnsucht, den Vater, die Kälte der Mutter, verflossene Liebschaften, starke emotionale Bindungen. Dabei ist eine stete Ambivalenz augenfällig: Einerseits zart, zerbrechlich und fragil, andererseits stark und unbestechlich. Melancholie, Schwermut, Einsamkeit und Sehnsucht können plötzlich in offene Fröhlichkeit, helle Bilder, Licht und Freude wechseln. «nähe/ bist du nah / verkrampfe ich mich / bist du fern / weine ich heiße tränen»

Waltraud Haas wurde 1951 in Hainburg/Donau geboren. Sie studierte Graphik an der Hochschule für Angewandte Kunst, Germanistik und Philosophie an der Universität in Wien. 2020 erhielt sie den Würdigungspreis des Landes NÖ. 

 

Waltraud Haas lebt in Wien

 

ES

Werke: «pfeilschnell wie kolibris» Gedichte 2023. «Mit der Axt in der Hand» Gedichte und Prosa 2021.«Schlaglichter» Gedichte und Prosa 2019 alle bei Klever Verlag Wien. https://waltraudhaas-lyrik.at/


Elisabeth R. Hager

Elisabeth R. Hager © Jasmin Schreiber
Elisabeth R. Hager © Jasmin Schreiber

Heu, der Geruch von Tannennadeln, modriger Waldboden. Schickeria, Kitzbühel, «auf Profit ausgerichtete Galeeren» und Menschen, die «ihre Füße nur beim Lauftraining im Fitnesscenter» benutzen. Das ist zusammen: Tirol. Das Tirol, wie es in Elisabeth R. Hagers «Der tanzende Berg» aufscheint. Und zwar anmutig originell, berückend skurril und ausgestopft. Vor allem letzteres, ist doch die Hauptfigur Marie Taxidermistin, stopft als Beruf tote Wildtiere aus.

Ein Chihuahua, ein einstiger bester Freund, die Rote Wand und «die Butz» – voilà ein fulminanter Bergroman mit Innen-Außen-Perspektive, politisch, kritisch, tänzerisch, unterhaltsam und gehaltvoll, über Fremde, fremde Heimat und Fremdbleiben (obwohl man einheimischer ist als die Einheimischen), über Individualität, Individuen und Einzigartigkeit, über Anpassen, Gehen und Untergehen – oder wie es in «Der tanzende Berg» poetisch heißt: Flugsamen, Findling und Geflecht –, über Natur und Kultur, Leben, Tod und Zeit, kurz: ein schrecklich lustiges, also ganz und gar wahres Tirol-Welt-Buch, wie man es lange nicht mehr hat lesen können. Dabei ausgreifend, obwohl es an genau einem Tag spielt (dafür erzählt Hagers Inter-Generationen-Roman «Fünf Tage im Mai» zwar von – Überraschung – fünf Mai-Tagen, erstreckt sich aber über 18 Jahre). Mit etwas anderem, mit ihrem Klang-Kunst-Projekt «Archiv seltener Arten», tritt die in St. Johann i. T. geborene Elisabeth R. Hager auch als gefeiert fulminante Rezitatorin auf. Und verficht damit eines: «Aussterben? Nicht mit mir!» Was auch, und erst recht, für ihre Bücher gilt. 

 

Elisabeth R. Hager lebt in Berlin 

AK

Werke: «Der tanzende Berg» 2022. «Fünf Tage im Mai» 2019 beide Klett-Cotta Stuttgart. «Kometen» 2012 Milena Wien. https://moeglichkeit-formen.blogspot.com


Pablo Haller

Pablo Haller © Franca Pedrazzetti
Pablo Haller © Franca Pedrazzetti

Der junge Schweizer Dichter, Jahrgang 1989, kommt von der Spoken Word Bewegung, getragen von Jazz und Punk. Sein Road Poem «Südwestwärts 1&2» haben mich sofort an das Langgedicht «Mexiko City Blues» von Jack Kerouac erinnert. Unterwegs – on tour – sein; in Hallers Fall von der Schweiz südwestwärts nach Nordafrika, nach Tanger.

Seine Poesie ist geprägt von laufenden Ortswechseln, geographisch wie auch gedanklich, Momentaufnahmen, Gesprächsfragmenten auf der Straße im Vorbeigehn aufgefangen, Zitate, Gedankensplitter alles in einem frechen frischen Sound, mit häufig überraschenden Wendungen.

Pablo Haller bedient sich der Cut-Up Methode, der Montage als literarische Technik. Reality Sandwiches in kleinen Happen.

In seinen Texten spielt es sich ab und seine Gedichte sind getragen vom Hauch der alten Beat-Haudegen, wie Kerouac, Burroughs, Corso oder Ira Cohen, der ja auch schon bei uns in Hall das Publikum verzauberte: „montagnacht, halb zwölf/ noch rasch nen döner/ dann feierabend/ für heute/ dacht ich/ jetzt ists zwei/ ich sitze/ noch immer/ am küchentisch/ der raum/ ist zugenebelt & die lichter/ im freudenhaus sind aus“

Drei Tage wird Pablo bei Sprachsalz sein und uns mit seinen Texten in den Bann ziehen. 

 

Pablo Haller lebt in Luzern

 

ES

Werke: «Südwestwärts 1&2» 2013 Gonzo


Peter Hossli

Peter Hossli © Ralph Diemer
Peter Hossli © Ralph Diemer

Das Buch mit dem Titel «Revolverchuchi» (Schweizerdeutsch für: «Revolver-küche») als True Crime Geschichte zu kategorisieren, wäre einfach zu kurz gegriffen. Denn hervorragende Journalist*innen sind mitunter brillante literarische Autor*innen. Peter Hossli hat sich durch 1500 Seiten Gerichtsakten gewühlt (die er notabene nicht kopieren durfte, sondern lediglich von Hand abschreiben), um einen Schweizer Mordfall vom 19. Oktober 1957 nachzuerzählen. Dabei legt er den Fokus einfühlsam auf den unblutigen Aspekt: den einer tiefen Liebe zwischen der Norwegerin Ragnhild Flater und dem Schweizer Max Märki.

Das geht einem beim Lesen ebenso nahe, wie die damalige Zeit und ihre Umstände. Akribisch recherchiert und elegant erzählt, da und dort mit sinnlichen Schweizer Sprach-Duftmarken versetzt: «Während er die Ravioli verschlang, entschloss er sich, etwas zu tun, einen ‚Chrampf‘ würde er machen; ein krummes Ding würde er drehen.» Die erwähnten Ravioli sind natürlich aus der Dose, anders gab es die damals gar nicht in der deutschen Schweiz zu kaufen – übrigens eine meiner Lieblingsmahlzeiten als Kind.

Den eigentlichen Akt erzählt Peter Hossli in knapp der Hälfte des Buches. Was er mit der anderen Hälfte anstellt, soll hier nicht verraten sein, nur so viel: Das Buch hat mich bis und mit dem Nachwort nicht mehr losgelassen.

Peter Hossli ist leidenschaftlicher Journalist und leitet die Schweizer Journalistenschule Ringier, bei der auch die Autorin dieser Zeilen vor ewigen Zeiten schreiben lernte.

 

Peter Hossli lebt in Zürich

MK

Werke: «Revolverchuchi» 2020 Zytglogge Verlag. «Die erste Miete ging an die Mafia. Was ich bin: Reporter» 2018 Weber Verlag. www.hossli.com


Wlada Kolosowa

Wlada Kolosowa © Mario Heller
Wlada Kolosowa © Mario Heller

Wlada Kolosowa ist eine deutschsprachige Schriftstellerin und Journalistin russischer Herkunft. Wie gut sie beide schreibenden Welten beherrscht, ist in ihren zwei Romanen und bei namhaften Medien zu lesen (Zeit, Spiegel, FAZ). Nach dem 2018 erschienenen Debüt «Fliegende Hunde» ist ihr 2022 mit «Der Hausmann» ein ganz besonderes Buch gelungen: Das Cover präsentiert sich flippig bunt mit gelbem Rahmen kombiniert mit cartoonhaften Zeichnungen, die abstrahierte Menschen mit surrealer Hautfarbe zeigen. Ein Bruch mit der Erwartungshaltung des Prädikats «Roman», das rechts oben auf der Titelseite geschrieben steht. Ein Bruch, der sich auch im Inneren des Buches fortsetzt. Überraschend vielschichtig mit einem Mix aus Typografien, Chats, gerahmten Textfeldern und einem Comic. Eine unkonventionelle Herangehensweise, einen Roman zu gestalten, die ständig mit den Grenzen der Gattung spielt. Beim Lesen verändert sich das anfänglich bunte Chaos in eine stringente, vielschichtige und unterhaltsame Handlung, die Spannung aufbaut und mit großen Überraschungen ihr Finale findet. Dass «Der Hausmann» nicht nur in keine Schublade passt, sondern auch begeistert, zeigen die Nominierung für die Hotlist 2022 und die Wahl als Titel der Aktion «Berlin liest ein Buch».

 

Wlada Kolosowa lebt in Berlin

 

BSch

 

Werke: «Der Hausmann» Roman 2022 Leykam. «Fliegende Hunde» Roman 2018 Ullstein. «Russland to go: Eine ungeübte Russin auf Reisen» 2016 Goldmann. «Lovetrotter: Eine Weltreise rund um die Liebe» 2014 Kailash.

www.wladakolosowa.de


Judith Kuckart

Judith Kuckart © Peter Burkhard
Judith Kuckart © Peter Burkhard

Achtung vor Judith Kuckart! Die Frau mit der sanften Stimme und dem aufmerksamen Blick erschafft Bilder und Erzählungen im Kopf, die man nicht mehr vergisst und von denen man irgendwann nicht mehr genau weiß, ob sie wahr oder erfunden sind oder ob man sie gar selbst erlebt hat. Tatsächlich handeln die meisten Geschichten, die Judith Kuckart erzählt, von Dingen, die wir alle kennen: Einsamkeit, unerfüllte Träume, Heimat und Fremde, Trauer, Liebe, Leben und Tod… Warum sich die von ihr entworfenen Figuren und Lebensläufe aber so nachhaltig ins Gedächtnis einprägen, ist das Ergebnis einer subtilen Erzähltechnik, die vieles nur andeutet und nichts zu Ende erzählt. Im «Café der Unsichtbaren», dem letzten Roman von Kuckart, entstehen im engen zeitlichen Rahmen eines Osterwochenendes Porträts von sieben Personen, die verschiedener nicht sein könnten, doch eines gemeinsam haben: Sie alle arbeiten ehrenamtlich beim Berliner Sorgentelefon, wo sie in Tages- und Nachtschichten abwechselnd den Geschichten der unsichtbaren Anrufer*innen lauschen. Doch während diese verschwommen im Hintergrund bleiben, rücken die Lebensläufe der Seelsorger*innen in Form von Erinnerungen, Rückblenden und Gedankenschleifen mehr und mehr in den Vordergrund. Judith Kuckart ist eine äußerst aufmerksame Seismographin ihrer Zeit und wir lernen in ihren Werken unsere Gesellschaft und damit auch uns selbst ein klein wenig besser kennen.

 

Judith Kuckart lebt in Berlin.

 

RG

Werke: «Cafè der Unsichtbaren» Roman 2022. «Kein Sturm. Nur Wetter» Roman 2019. «Wünsche» Roman 2013. https://judithkuckart.de/


Stewart O'Nan

Stewart O'Nan © Stephen O’Nan
Stewart O'Nan © Stephen O’Nan

Er nahm bereits an Sprachsalz teil, allerdings bei der digitalen Corona-Ausgabe 2020. Dann habe ich ihn in Wien getroffen. Im Café Jelinek wurde vereinbart, dass er nun physisch an Sprachsalz teilnehmen wird. Der Verlag war überrascht und erfreut, dass es geklappt hat. 

Nun aber zu seiner Arbeit. Stewart O`Nan erschafft in seinen Büchern eine erstaunliche atmosphärische Nähe zu seinen Figuren. Im Roman «Emily allein» in dem Emilys Radius zusammenschrumpft, erfasst einen unvermittelt das Gefühl, dass er zum eigenen Radius wird. Wir teilen ihre Ängste, erfahren von Todesfällen und einem stetig kleiner werdenden Freundeskreis. «Wie jeder Todesfall in ihrem Bekanntenkreis brachte auch dieser Emily ihrem eigenen Tod näher, als wären sie alle um einen Platz aufgerückt.» Sie ersehnt die Festtage, an denen sie ihre Kinder und Enkelkinder erwartet, wenn diese Begegnungen dann oftmals auch nicht ihren Erwartungen entsprechen. Nichts kommt wirklich zurück, und die Erinnerung, die ist gelegentlich trügerisch. Dann der Roman «Henry, persönlich». Die Geschichte des Ehemannes von Emily. Emily kocht. Henry macht den Abwasch. Emily hält Kontakt zu den Nachbarn, zur Familie und wenn sie ihm davon erzählt, hört er gerne zu. In Wien im Café Schopenhauer las O’Nan aus dem Roman «Ocean State». Es ist beeindruckend, wie er die Welt der Pubs, der Supermärkte skizziert, wie auch die sozialen Verwerfungen, in denen Kleinbürger leben, sich abkämpfen. Man liest vom sozialen Zerfall der Kleinstädte, von Verlustängsten, Ungerechtigkeiten und von der Wut, die dadurch erzeugt wird. Stewart O’Nan ist bei Sprachsalz auch am großen Festabend zu hören.

 

 

Stewart O´Nan lebt in Pittsburgh

 

HDH

Werk-Auswahl: «Ocean State» 2022. «Henry persönlich» 2019. «Westlich des Sunset» 2015. «Die Chance» 2014. «Emily allein» 2011. «Alle lieben dich» 2009. «Letzte Nacht» 2007 (alle übersetzt von Thomas Gunkel) Rowohlt Verlag Hamburg.


Kerstin Preiwuß

Kerstin Preiwuß © Jorinde Gersina
Kerstin Preiwuß © Jorinde Gersina

Das Kuratorium von Sprachsalz ist für sein Publikum stets auf der Suche nach faszinierender Literatur. Was wir dabei vermeiden: wiederholte Einladungen, solche bedeuten oft nichts anderes als Freundschaftsdienste, die weder dem Ansehen des Festivals nützen, noch die Erwartungen des Publikums erfüllen. Nun von allgemeiner Information (die gelegentlich sein muss) hin zum Wesentlichen: In der Buchhandlung Bittner in Köln wurde ich auf die Bücher von Kerstin Preiwuß aufmerksam. Kurz angelesen, kaufte ich ihre Bücher, ging ins Hotel, begann zu lesen und wurde sofort in eine Schleife aus Faszination und Bedrängtsein gezogen. «Heute ist mitten in der Nacht», lautet der Buchtitel, von dem ich schreibe. «Kerstin Preiwuß nimmt die Gegenwart in den Blick und macht den Moment begreifbar, der ihr gewohntes Leben plötzlich und gewaltsam unterbricht und sie als Tochter, Mutter, Dichterin vor die Frage stellt, wie man liebesfähig bleiben, Verantwortung übernehmen und sich in Zeiten der Überforderung trotz aller Angst vor Krankheit und Krieg die Zuversicht erhalten kann», heißt es im Klappentext. 

Eine weitere Frage, die der Text stellt: Lässt sich an der eigenen Angst der Zustand der Gesellschaft beschreiben? Ist die Relevanz des Privaten in der Allgemeinheit zu erkennen? Angst kann uns auf die falsche Fährte führen oder aber sich als hellsichtige Eigenschaft erweisen. Die Autorin gräbt nach Wahrheiten, die in den Wörtern stecken. Was sie findet, wird sich wahrscheinlich erst mit zeitlichem Abstand vollständig entfalten. Es lohnt sich, Dichterinnen und Dichtern zuzuhören, gerade jetzt in einer Zeit voller gesellschaftspolitischer Ausnahmesituationen. 

 

Karin Preiwuß lebt in Leipzig

 

HDH

Werke: «Heute ist mitten in der Nacht » 2023. «Taupunkt» 2020 Gedichte. «Nach Onkalo» 2017 Roman. «Gespür für Licht» 2016 Gedichte. «Restwärme» 2014 Roman alle Berlin Verlag.


Sergio Ramirez

Sergio Ramírez © Ramírez
Sergio Ramírez © Ramírez

Ein Roman: besser. Viel besser, um von Nicaragua zu erzählen. Und von den einschneidenden Veränderungen im mittelamerikanischen Land heute. 

Eigentlich hatte der 1942 geborene Sergio Ramírez, der Mitte der 1970er Jahre zwei Jahre als Stipendiat in West-Berlin verbrachte, ab 1977 von Costa Rica aus gegen den Diktator Somoza bis zu dessen Sturz kämpfte, von 1979 bis 1985 Mitglied von revolutionären Regierungsjuntas war, 1985 bis 1990 gar Vize-Präsident von Nicaragua, der 1994 eine eigene Partei gründete (die 2008 verboten wurde), sich 1996 aus der Politik zurückzog und 2017 mit dem Premio Cervantes, dem wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet wurde (1985 hatte er den Bruno Kreisky Preis für Verdienste um die Menschenrechte erhalten), ein Buch mit Reportagen geplant. Stattdessen wurde es der Roman «Tongolele konnte nicht tanzen». Ein deutscher Journalist gestand, einige düster-grausige Passagen dieses Schlussbandes der Managua-Trilogie erschienen ihm überzeichnet. Ramírez: «Je unglaublicher die Ereignisse, umso authentischer sind sie, leider. Die Wirklichkeit übertrifft die Fantasie.»

Seit 2021 lebt der Autor von Romanen, Essays und Erzählungen ein zweites Mal im Exil, von seinem einstigen Mitstreiter Daniel Ortega, dem enthemmt autokratischen Herrscher Nicaraguas, frei erfunden des «Vaterlandsverrats» und der Geldwäsche bezichtigt; im Februar 2023 wurde Ramírez die Staatsbürgerschaft entzogen: ein Leben als nicaraguanischer Autor, magischer Erzähler und Intellektueller von Rang. 

 

Sergio Ramírez lebt in Madrid

 

AK

Werke: «Tongolele konnte nicht tanzen» 2022. «Sara» 2021. «Um mich weint niemand mehr» 2018. «Der Himmel weint um mich» 2015. Alle übersetzt von Lutz Kliche, alle Verlag Edition 8 Zürich.


Phil shoenfelt

Phil Shoenfelt © Zuzana Oplatkova
Phil Shoenfelt © Zuzana Oplatkova

Phil Shoenfelt stammt aus Bradford in England. Dort kam er 1952 zur Welt. In jungen Jahren zog es ihn nach London und er gehörte dort der berüchtigten Punkszene an, um später in die Lower Eastside in Manhattan zu wechseln. Wie es damals in der Musikszene üblich war, spielten harte Drogen eine zentrale Rolle. So auch bei Phil. Es folgte ein Jahrzehnt schwerer Drogensucht, ehe es ihm gelang, davon wieder loszukommen.

Seit 1985 lebt Shoenfelt in Prag und hat inzwischen mehrere CDs präsentiert und 2001 auch sein Buch «Junkie love», das heuer in deutscher Sprache erschienen ist. Darin beschreibt Shoenfelt schnörkellos, direkt und ungeschönt die Hoffnungslosigkeit dieser Szene.

Am Beginn stand für die handelnden Personen zumeist die Ablehnung eines üblichen Durchschnittslebens und die Suche (Sucht) nach einem erfüllteren, selbstbestimmteren Lebensentwurfs, der dann im täglichen brutalen Kampf zu einem «Hit» zu kommen, endet.

Shoenfelts eindringlicher Bericht erzeugt einen Sog durch die große Ehrlichkeit und Authentizität, die klare Sprache, aber auch Humor und vor allem Zynismus.

Die große Beatautorin ruth weiss hat das so ausgedrückt: «Dieses Buch ist harte Liebe… dass Phil Shoenfelt es heute erzählen kann, ist ein Triumpf einer Seele in ihrem Kampf ins Licht.»

 

Phil Shoenfelt lebt in Prag

 

ES 

Werke: «Junkie love», 2023, Moloko Print Verlag


ABEL SOLARES

Abel Solares © Christian Ademeit
Abel Solares © Christian Ademeit

Abel Solares hat etwas, das wir meistens mit dem Eintritt in das Schulsystem systematisch verlieren: Er hat sich die Natürlichkeit und Spontaneität eines Kindes erhalten. Der Körper als Erzähler*in und die Stimme als Bewegungsmittel. Was sich so spielerisch und leicht ansehen und anhören lässt, ist Produkt harter Arbeit. Die Auseinandersetzung mit den Grenzen des Darstellbaren, das Erzählen der ewig gleichen Geschichten mit anderen Sprachen und dem eigenen Körper, der sich selbst und der Umwelt ein Leben lang anpassen muss - diese Grundthemen führen uns in unsere eigenen Laut- und Formräume, in der gelassenen Gewissheit, Erfahrungen angstfrei erleben zu können. 

Abel Solares wurde in Guatemala geboren. Er ist Mitbegründer des TEATRO VIVO, das – in Anlehnung an lateinamerikanische Tradition – weltweit tourte. Als Regisseur und Pädagoge hat er in Lateinamerika, Europa, Afrika und Asien gearbeitet. Seine Arbeiten basieren auf anthropologischen Fragen im Theater: mündliche Traditionen, Rituale und Theaterformen in interkulturellen Beziehungen. Seit 1996 konzentriert er sich auf die japanische Theatertradition von Nô und Kabuki. Für eine moderne Version des Nô-Stücks Kinuta erhielt er den Uchimura-Theaterpreis 2000 des ITI Tokyo. Abel Solares ist Mitglied des Theaterlabors Hideo-Zemi unter der Leitung des Nô-Meisters Kanze Hideo in Tokio, Japan. 

Solares performt und tanzt bei Sprachsalz zu Texten aus: «Poopol Wuuj», das Heilige Buch des Rates der K ́ichee’ Maya von Guatemala und «Mukashi Banashi», das sind japanische Volkslegenden.  

 

Abel Solares lebt in Graz

PG 

 

http://www.artkunst.org/Aktuell


YELLO – Dieter Meier und Boris Blank

Yello (Dieter Meier und Boris Blank) © Helen Sobiralski
Yello (Dieter Meier und Boris Blank) © Helen Sobiralski

Dieter Meier

Lang bevor aus ihm und Boris Blank Yello wurde, hatte Dieter Meier schon allerhand Karrieren angefangen. Diejenige eines seriensiegenden, illegalen Poker-Profis zum Beispiel, der er nachging, um das langweilige Juristik-Studium zu vergessen. Gefolgt von der Konzeptkunst mit dem erklärten Ziel, die Sinnlosigkeit zu inszenieren. Sänger ebenfalls, natürlich. Seine erste Single hieß «Cry For Fame» (1978) und erinnerte an Captain Beefheart. Dann die schicksalhafte Begegnung mit Boris Blank. Mit seinem hyperintensiven ra-ta-ta-ta-Rap von «Bostich» (1981) kam die Symbiose zum ersten Mal so richtig in Schwung – und sorgte auf den supercoolen Tanzböden von NY für eine Sensation. Gleiches geschah mit den Videoclips, die der frühere Avantgarde-Filmer dem Yello-Groove nun auf den Leib zuschnitt: «Pinball Cha Cha» (1982) gehört heute zur Sammlung des New Yorker MOMA. «Die Sounds von Blank flogen mir zu, wie intergalaktische Sphären», schreibt er im Vorwort von «Oh Yeah». «Blanks ‘Stücke’ entstanden aus einer Eigendynamik, die den Komponisten so weit überraschte, dass aus der Absicht, eine Blume herbeizuzaubern, schlussendlich ein Kamel wurde, das in der Wüste an der Oase das wohlverdiente Wasser saufen konnte.»

 

Dieter Meier lebt in Zürich

 

HPK

Werke: «In Conversation» Verlag für Moderne Kunst 2013. «Out of Chaos» Autobiographie/Bilderbuch 2011 Edel. «Hermes Baby» Geschichten Essays. 2006 Ammann. LP «Out of Chaos» (2014). «Point» (2020)

Ausgewählte Yello-Alben: «Solid Pleasure» (1981). «You Gotta Say Yes to Another Excess» (1983). «Stella» (1985). «One Second» (1987). «Motion Picture» (1999). 

https://www.dietermeier.com/ https://www.yello.com/

Boris Blank

Eigentlich hätte Boris Blank den Dieter Meier gar nicht kennenlernen wollen. Aber ein gemeinsamer Freund, ein Plattenladenbesitzer, der soeben Dieter Meiers erste Single veröffentlicht hatte, bestand darauf, dass Blank seine proto-elektronische Instrumentalmusik mit einer Stimme versah, ehe er gewillt war, auch ihm den Gefallen einer Veröffentlichung zu machen. So erschien Meier eines Tages in Blanks Küche und brüllte dermaßen ohrenbetäubend in der Gegend herum, dass ersterem umgehend die Wohnung gekündigt wurde. Meier, schon seit geraumer Weile als Konzeptkünstler tätig, verfügte über ein Studio in der legendären Zürcher Subversiv-Burg Rote Fabrik und ließ den Musiker dort einziehen. Es war die Geburt einer perfekten Symbiose. «Ich bin ein Jäger und Sammler nach dem Motto ‘Was ich schon habe, muss ich nicht mehr jagen’», schreibt Blank in dem auf seinem Archiv basierenden Yello-Buch «Oh Yeah». «Schon als 14-, 15jähriger habe ich Klänge und Geräusche gesammelt und mit meinem Revox A77 daraus Musik gemacht. Klang-Collagen, das war meine Welt.»

Rund vierzig Jahre später ist es noch immer seine Welt. In filigraner Kleinarbeit konstruiert er im Studio seine in mehrfacher Hinsicht fantastischen Klanglandschaften, Meier lässt sich von ihnen später für seine Texte und Gesänge inspirieren. Er ist ohne Zweifel einer der originellsten Pioniere der elektronischen Musik. Seine Klänge sind sogleich als «Blank-Klänge» erkennbar. Elegant schafft er noch heute den Spagat zwischen Experiment und – dank Hits wie «Bostich», «Oh Yeah» und «The Race» - kommerziellem Erfolg.

 

Boris Blank lebt in Zürich

HPK

Werke: «Oh Yeah» Photo/Archiv 2021 Edition Patrick Frey. 

https://blank.media/artists/boris-blank/. https://www.yello.com/