Ausgerechnet... Pforzheim?

 

Frida Kahlos Vater Guillermo wurde in Pforzheim geboren, 1871.

1968 beschädigte ein Tornado 2300 Pforzheimer Häuser.

Doch wann und wo spielte Pforzheim eine echte Rolle? Wozu ein Literaturfestival - hier?

 

Ich komme aus Eppingen - keine 50 Kilometer von Pforzheim entfernt. Von dort fährt man in 40 Minuten nach Heidelberg (Kultur, Altstadt, Studenten aus aller Welt) oder in einer Stunde nach Karlsruhe (Einkaufen, Cafés). Heilbronn liegt näher: 35 Minuten. Doch ich war nie gern dort - zu klein, zu eng, zu wenig Charme... und zu viele Bausünden aus den 50er Jahren. In Pforzheim war ich einmal, 2003. Und dachte nur: "Oha. Das könnte alles auch Heilbronn sein. Schroff und miefig."

 

Direkt danach zog ich zum Studium fort: nach Hildesheim, bei Hannover. Doch ich merkte schnell: zu klein, zu eng, zu viele Bausünden aus den 50er Jahren. Schroff und miefig. Heilbronn, Pforzheim, Hildesheim. Ich stellte die drei Städte in die selbe Ecke: zu wenig Kultur, zu wenig Charme, viel biederes Brauchtum - und keine akademischen Räume, keine queeren Räume, Gebäude wie Kulissen einer schlechten, billigen Serie. Heilbronn: 117.000 Einwohner. Hildesheim: 102.000 Einwohner. Pforzheim: 114.000 Einwohner. 

 

Ich fand Hildesheim so feindselig, eng, lieblos - ich hatte keine gute Zeit. Doch ich hatte gute Momente. Zum Beispiel durch PROSANOVA - ein Literaturfestival, das die Studenten dort seit 2005 alle drei Jahre ausrichten. 2005 berichtete ich vom Festival, für die Festivalzeitung. 2008 war ich Mitveranstalter und arbeitete fast anderthalb Jahre hinter den Kulissen. 2011 war ich zum ersten Mal seit meinem Studien-Ende als PROSANOVA-Besucher wieder zurück.... und es war so schön, dass ich 2014 auch meine Schwester und meine Mutter mitbrachte: Monatelang passiert in Hildesheim nichts, das mich vor die Tür lockt. Und dann, alle drei Jahre, vier Tage Lesungen, Performances, Parties, Feiern - so intensiv, dass wir oft Jahre später noch über Begegnungen und Texte sprechen.

 

Nach ein paar Monaten Hildesheim-Hass und -Widerwillen ("Warum ist hier alles SO hässlich? Hätte man das nicht schöner anlegen können?") erklärte man mir, dass bei den Luftangriffen 1945 drei Viertel der Hildesheimer Innenstadt zerstört wurden: ein Kahlschlag, dessen Folgen man bis heute in jeder Straße sehen, spüren muss. Und der mir auch die Mentalität, Ängste, Traumata der Hildesheimer ein wenig plausibler machte. Ich fand die Zahlen für Heilbronn: 62 Prozent Zerstörung. Und für Pforzheim: 83 Prozent.

 

 

 

 

Vielleicht sind diese kleinen, verwundeten Städte die... besten Städte für Euphorie:

 

Letzte Woche wollte ich in Heilbronn zu Starbucks: Die einzige Filiale schließt Sonntags schon um 19 Uhr. In Hildesheim konnte sich der McDonald's am Hauptbahnhof (!) nicht halten. Ich weiß nicht, ob ich in Pforzheim eine Flasche Dr. Pepper light finden könnte. Oder Tempura-Shrimps. Oder einen Comicshop. Oder interessante Blogs. Oder coole Studenten. Oder viele nicht-weiße, nicht-heterosexuelle Menschen, die sich einmischen und sichtbar machen. Mir fehlte das in Hildesheim. Mir fehlt es in Heilbronn. Ich kann verstehen, wenn Menschen sagen: "Für mich, meine Lebensqualität ist das nicht wesentlich." Für mich ist es... lebenswichtig: Ich habe keine Lust, in einer Stadt zu leben, in der ich darauf verzichten muss.

 

Tatsächlich aber GIBT es tolles Essen in Heilbronn - und jedes Mal, wenn ich dort Freunde treffen will, müssen wir reservieren: Weil die Heilbronner selbst eine Riesenlust auf Neues haben. In Hildesheim eröffnete eine Filiale von Dunkin Donuts... und Hunderte Menschen standen Schlange, um 5 Uhr morgens, für Gratis-Eröffnungs-Donuts. Solche Städte sind neugierig. Hungrig. Haben eine Offenheit für Neues, die ich aus größeren, abgeklärteren, beschäftigteren Städten, aus echten Metropolen - Berlin, Toronto, New York - nicht kenne.

 

Deshalb ist Pforzheim, glaube ich, ein schlüssiger Ort für ein Literaturfestival. "Wir brauchen genau solche Dinge [wie 'Sprachsalz'], um unsere Stadt auch weiterzuentwickeln", sagte Gert Hager, Pforzheims Oberbürgermeister, heute Abend zum 'Sprachsalz'-Empfang. "Ich selbst war auf dem Sprachsalz-Festival in Hall [Tirol] - und absolut begeistert von der ungezwungenen, familiären Atmosphäre dort." Hager sagte: "Pforzheim braucht solche Highlights. Damit sprechen wir eine Zielgruppe an, die sich um Kunst und Kultur bemüht." Er wirkte ehrlich begeistert, euphorisiert - wie ein Hildesheimer, der um 5 Uhr morgens Schlange steht. Für eine Gratis-Sechserpackung Donuts.

 

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

Ich frage meine Freunde, ob sie Pforzheim kennen - und was sie daran mögen.

Freund Lino Wirag veranstaltet hier in Pforzheim Poetry-Slams, im Kupferdächle, seit über 10 Jahren. Dutzende gemeinsame Freunde waren schon zu Besuch - und hatten Spaß und ein interessiertes Publikum für ihre Texte.

 

"Alle finden den Bahnhof hässlich. Aber ich finde ihn ganz schön", sagt Freundin R., und Freund K. hat R.s Beitrag nicht gelesen und schreibt spontan, als ich nur "Pforzheim" sage: "Ah, Pforzheim! Der Bahnhof ist ein echtes Juwel der Architektur der 50er. Wunderschön, einer meiner Lieblingsbahnhöfe!"

 

2003, bei meinem ersten Besuch hier in der Stadt, hatte Freund B. ein Buch auf seinem Bett liegen. Es hieß "Die Welt der Guermantes". Ich hatte nie davon gehört. Doch es war... ziemlich wichtig/prägend, für mein weiteres Leser-Leben: Ich habe Marcel Proust in Pforzheim entdeckt. Mit 20. :-)

 

Und: 2013 übersetzte ich Briefe und Tagebücher, für einen kanadischen Klienten in Toronto, von Deutsch auf Englisch. Die Mutter des Klienten hatte in Pforzheim gelebt, und es gab viele Briefe und Notizen vom Stiefvater - einem sehr liebenswerten, großherzigen, klugen Mann, angewidert von der NS-Zeit, dem Volkssturm, den Nazis vor seiner Haustür. Der Stiefvater hieß Friedrich Adolf Katz - und wurde von 1945 bis 47 der erste Pforzheimer Nachkriegs-Oberbürgermeister.

 

Klar: 2003 lief ein Mann mit einem Samurai-Schwert in Pforzheim Amok. Das sind die Meldungen, die man sein Leben lang im Kopf behält. Auch, wenn ich "Hildesheim" oder "Heilbronn" sage, fallen allen Menschen nur die Gewaltverbrechen, Justiz- und Schulskandale, Polizistenmorde, rassistischen Verbrechen usw. ein, die solche Städte alle paar Jahre auch in die großen Zeitungen und Nachrichtensendungen bringen. Und trotzdem...

 

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

Sprachsalz ist ein internationales Literaturfestival.

Autorinnen und Autoren aus der ganzen Welt.

Lyrik. Theater. Prosa. Viel Avantgarde, viel Anspruch, Experimentelles.

 

Ich bin begeistert, dass das Festival von so vielen Pforzheimer Betrieben gefördert und unterstützt wird. Ich freue mich, dass die Politik das Festival ernst nimmt und dass auch Gert Hager tatsächlich begeistert klingt. Kleine Städte, große Festivals... ich weiß, wie schön und intensiv solche Tage werden können.

 

Aber: Der Hildesheimer Dunkin' Donuts schloss 2015 wieder. Und dass Gert Hager stolz betonte: "Es steckt kein einziger Euro öffentlicher Gelder" hinter Sprachsalz, "und das beweist mir aber auch: Es geht in Pforzheim!", irritiert mich: Die tollen Autor*innen sind hier. Eine Orga mit Erfahrung und gutem Gespür für gute Texte. Ein Hotel, das einen guten Rahmen bieten will. Ein Drei-Tages-Programm mit bis zu drei, vier parallelen Lesungen und Veranstaltungen - alle gratis.

 

Es kann toll werden. Falls Pforzheim selbst Lust hat. Und Hunger, auf Kultur.

 

(Braucht man Gratis-Donuts, für solche Events? Und: Ab wann "rechnet", beweist sich ein Gratis-Festival?)

 


[Friedrich Adolf Katz, Oberbürgermeister von Pforzheim, führte Tagebuch. 1995 erschienen Ausschnitte:

 

"Die Einschläge kommen näher: Aus den Tagebüchern 1943-44 von Friedrich Adolf Katz, 1945-1947 Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim", Stadtarchiv Pforzheim, herausgegeben von Marianne Pross]

 

 

STEFAN MESCH schreibt als Kritiker und Literaturexperte für die ZEIT, Deutschlandradio Kultur und den Berliner Tagesspiegel. Bis 2008 studierte er Kreatives Schreiben & Kulturjournalismus in Hildesheim. Als Liveblogger begleitet er Lesungen, Literaturfestivals, Tagungen, z.B. den Open Mike oder die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Er lebt in Berlin und Eppingen und arbeitet an seinem ersten Roman, "Zimmer voller Freunde".

 

mehr im Blog: www.stefanmesch.wordpress.com

und auf Instagram, Facebook und Twitter

Kommentar schreiben

Kommentare: 0